Festival Theaterformen
2021
Raschplatz Hannover, Deutschland
We are in this together but we are not the same
Es gibt unterschiedliche Perspektiven auf ein und dieselbe Sache, und nur mit diesem Verständnis können wir auch komplexe Fragen und Herausforderungen angehen und Lösungen finden.
Die neue Intendantin der Theaterformen, Anna Mülter, kam auf uns zu, weil sie mit ihrem Festival einen glaubhaften Diskurs jenseits der klassischen Theaterräume, im Stadtraum und mit der Stadtgesellschaft zum Thema Klimagerechtigkeit anstoßen wollte. Dafür hat sie uns frühzeitig mit in ihr Team geholt und wir haben eineinhalb Jahre lang im engen Austausch und Prozess zusammen ausgehandelt, welcher Ort und welche Form wohl die geeignetste Intervention sein könnte um dem Thema Klimagerechtigkeit und marginalisierten Perspektiven in der Stadt für den Zeitraum von knapp zwei Wochen einen angemessenen Platz einzuräumen. Wir haben uns gemeinsam für die Raschplatzhochbrücke entschieden, weil dieser Ort – zusammengenommen mit dem darunterliegenden, auf zwei Ebenen verteilten Raschplatz – auf jeden Fall ein superanschauliches Beispiel für ein städtebauliches, überdimensioniertes Desaster auf allen Ebenen ist, aus dem Zeitalter der autogerechten Stadt. Weil zum Klimagerechtigkeitsdiskurs auch die Themen Barrierefreiheit und Wege zu einer inklusiveren Stadt gehören, haben wir gesagt, dass wir auf jeden Fall einen Raum für das Stadtlabor öffnen wollen, der sonst nicht zugänglich ist.
Und so ist es dann die vierspurige Hochstraße geworden, die bisher für Niemanden außer für Autos vorgesehen und zugänglich war. Diesen, für alle Besucher*innen in geleichermaßen unzugänglichen Ort für den Festivalzeitraum zu öffnen und zu bespielen, war dann ein logischer Schritt. Die Brücke sollte zu einem gigantischen städtischen Freiraum werden, den sich die Stadtgesellschaft für 11 Tage aneignet - Damit wurde die Brücke nicht nur zu einer neuen Form des Festivalzentrums, sondern auch zur öffentlichen Terrasse. Für drei Wochen wurde diese Hauptverkehrsader für den Autoverkehr komplett gesperrt (was für viel Aufregung und Aufmerksamkeit gesorgt hat) und stattdessen wurden zahlreichen lokalen Initiativen und lokalen, überregionalen und internationalen Künstler:innen Platz zum Austausch mit der Stadtgesellschaft geboten hat. Da gab es Performances, Lectures, Ausstellungen, Filmvorführungen, Konzerte, Partys und Talks – an einem Ort, der sonst ausschließlich dem Autoverkehr vorbehalten ist.
Auch wenn wir im späteren Planungsprozess noch oft geflucht haben, was für eine dicke Nuss wir uns da vorgenommen haben zu knacken, am Ende haben wir geschafft, was 60 Jahre lang Niemand geschafft hat und hielten eine Woche vor Festival beginn tatsächlich den genehmigten Bauantrag in der Hand!
Eine Architektonische Aufforderung zur Selbstreflexion
Da sich Menschen die marginalisierten Gruppen angehören oft „unsichtbar“ fühlen, ihre Perspektive auf die Welt „ungesehen“ scheint und es bei dem Festival ja genau darum gehen sollte, unterschiedliche Perspektiven sichtbar zu machen, haben wir uns entschieden mittels gigantischer Spiegel einen Teil der Brücke verschwinden zu lassen und mithilfe dieser räumlich-künstlerischen Intervention ein Bruch im Stadtgefüge, eine Disruption im städtischen Alltag zu erzeugen, welche die zentralen Themen, die das Festival beleuchtet aus dem Theater heraus in den öffentlichen Raum und damit auch in die öffentliche Wahrnehmung bringen sollte. Das Bauwerk kragt an beiden Seiten der Hochstraße über die Brücke hinaus - so entsteht tatsächlich der Anschein, ein Teil der Brücke würde fehlen. Der Spiegeleffekt erzeugt so einen optischen Bruch und ist zugleich die architektonische Aufforderung zur Selbstreflektion: Die Perspektive der Betrachtenden wurden durch den Einsatz der Spiegel nicht nur metaphorisch, sondern ganz tatsächlich verändert.
Die Brücke wird zur größten Bühne der Stadt
Diese „auffällige Unsichtbarkeit“ des Entwurfs sollte die Aufmerksamkeit auf die Themen des Festivals lenken. Und tatsächlich: Während des Festivals war die Sperrung der Brücke DAS Thema in der Stadt, egal in welchem Café man in dieser Zeit gesessen hat, egal welche Zeitung man aufgeschlagen hat – überall in Hannover wurde diskutiert und gestritten, ob die Kunst diese Maßnahme nun rechtfertigt oder nicht. (Wir haben es sogar auf die Titelseite der Bildzeitung "geschafft"! Wann hat das ein architektonischer Eingriff in Hannover das letze mal erreicht?) Die szenografische und narrative Kraft des Theaters - im Zusammenspiel mit dieser architektonischen Intervention – hat so kurzfristig einen Ort erzeugt, der nicht nur Raum für künstlerische und aktivistische Auseinandersetzung bietet sondern besonders durch die Konfrontation (Man kann in Hannover den Bürgerinnen wohl nichts mehr in den Weg legen, als auf dieser Brücke) wirklich einen Dialog mit der lokalen Stadtgesellschaft erzeugt, der auf mehreren Ebenen im „geschlossenen“ Raum des Theaters in dieser Form und Intensität niemals möglich gewesen wäre. So haben wir nicht nur kurze Aufmerksamkeit, sondern ein länger anhaltendes Bewusstsein für marginalisierte Perspektiven geschaffen.
Ein Wahnsinnsprojekt für uns, weil wir da, dank der vertrauensvollen und wirklich partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit der Intendantin geschafft haben, eine Disruption zu erzeugen und einen ganz klar monofunktional programmierten Stadtraum anzueignen und umzudeuten.
Die Hochstraße und Rudolf Hillebrecht
“Das Wunder von Hannover” heißt es bis heute, wenn von Rudolf Hillebrecht gesprochen wird – dem Mann, der Hannover als Stadtbaurat nicht nur wiederaufgebaut, sondern direkt zur vorzeigbaren autogerechten Stadt umgeplant hat. Vor allem der Cityring, auf dem auch das Festival stand, hat Hillebrecht als Stadtplaner berühmt gemacht. Worüber seltener und vor allem viel weniger gerne gesprochen wird, ist Hillebrechts steile Karriere im dritten Reich, die Verwaltung von Zwangsarbeiter:innen und die Naziseilschaften, die ein nicht wegzuleugnender Bestandteil seines beruflichen Schaffens und eben auch seines Erfolges sind. Diesen Teil des Architekten und des „Wunders mit Nazihintergrund“, hat Ivana Rohr in einer Lecture-Performance herausgearbeitet und in den Vordergrund gerückt
Barrierefreiheit
Wir haben besonders gerne und intensiv mit Sophia Neises und Noa Winter zusammengearbeitet, die uns und das Festival zum Thema Barrierefreiheit beraten haben. So ist beispielsweise ein taktiles Wegeleitsystem entstanden und kurz vor Eröffnung haben wir mit einer alten Buchpresse und 3D gedruckter Matrizen Lagepläne erstellt, die mit Brailleschrift ertastbar sind.
Fotos: Julius C. Schreiner und Moritz Küster
Festival Theaterformen
2021
Raschplatz Hannover, Deutschland
We are in this together but we are not the same
Es gibt unterschiedliche Perspektiven auf ein und dieselbe Sache, und nur mit diesem Verständnis können wir auch komplexe Fragen und Herausforderungen angehen und Lösungen finden.
Die neue Intendantin der Theaterformen, Anna Mülter, kam auf uns zu, weil sie mit ihrem Festival einen glaubhaften Diskurs jenseits der klassischen Theaterräume, im Stadtraum und mit der Stadtgesellschaft zum Thema Klimagerechtigkeit anstoßen wollte. Dafür hat sie uns frühzeitig mit in ihr Team geholt und wir haben eineinhalb Jahre lang im engen Austausch und Prozess zusammen ausgehandelt, welcher Ort und welche Form wohl die geeignetste Intervention sein könnte um dem Thema Klimagerechtigkeit und marginalisierten Perspektiven in der Stadt für den Zeitraum von knapp zwei Wochen einen angemessenen Platz einzuräumen. Wir haben uns gemeinsam für die Raschplatzhochbrücke entschieden, weil dieser Ort – zusammengenommen mit dem darunterliegenden, auf zwei Ebenen verteilten Raschplatz – auf jeden Fall ein superanschauliches Beispiel für ein städtebauliches, überdimensioniertes Desaster auf allen Ebenen ist, aus dem Zeitalter der autogerechten Stadt. Weil zum Klimagerechtigkeitsdiskurs auch die Themen Barrierefreiheit und Wege zu einer inklusiveren Stadt gehören, haben wir gesagt, dass wir auf jeden Fall einen Raum für das Stadtlabor öffnen wollen, der sonst nicht zugänglich ist.
Und so ist es dann die vierspurige Hochstraße geworden, die bisher für Niemanden außer für Autos vorgesehen und zugänglich war. Diesen, für alle Besucher*innen in geleichermaßen unzugänglichen Ort für den Festivalzeitraum zu öffnen und zu bespielen, war dann ein logischer Schritt. Die Brücke sollte zu einem gigantischen städtischen Freiraum werden, den sich die Stadtgesellschaft für 11 Tage aneignet - Damit wurde die Brücke nicht nur zu einer neuen Form des Festivalzentrums, sondern auch zur öffentlichen Terrasse. Für drei Wochen wurde diese Hauptverkehrsader für den Autoverkehr komplett gesperrt (was für viel Aufregung und Aufmerksamkeit gesorgt hat) und stattdessen wurden zahlreichen lokalen Initiativen und lokalen, überregionalen und internationalen Künstler:innen Platz zum Austausch mit der Stadtgesellschaft geboten hat. Da gab es Performances, Lectures, Ausstellungen, Filmvorführungen, Konzerte, Partys und Talks – an einem Ort, der sonst ausschließlich dem Autoverkehr vorbehalten ist.
Auch wenn wir im späteren Planungsprozess noch oft geflucht haben, was für eine dicke Nuss wir uns da vorgenommen haben zu knacken, am Ende haben wir geschafft, was 60 Jahre lang Niemand geschafft hat und hielten eine Woche vor Festival beginn tatsächlich den genehmigten Bauantrag in der Hand!
Eine Architektonische Aufforderung zur Selbstreflexion
Da sich Menschen die marginalisierten Gruppen angehören oft „unsichtbar“ fühlen, ihre Perspektive auf die Welt „ungesehen“ scheint und es bei dem Festival ja genau darum gehen sollte, unterschiedliche Perspektiven sichtbar zu machen, haben wir uns entschieden mittels gigantischer Spiegel einen Teil der Brücke verschwinden zu lassen und mithilfe dieser räumlich-künstlerischen Intervention ein Bruch im Stadtgefüge, eine Disruption im städtischen Alltag zu erzeugen, welche die zentralen Themen, die das Festival beleuchtet aus dem Theater heraus in den öffentlichen Raum und damit auch in die öffentliche Wahrnehmung bringen sollte. Das Bauwerk kragt an beiden Seiten der Hochstraße über die Brücke hinaus - so entsteht tatsächlich der Anschein, ein Teil der Brücke würde fehlen. Der Spiegeleffekt erzeugt so einen optischen Bruch und ist zugleich die architektonische Aufforderung zur Selbstreflektion: Die Perspektive der Betrachtenden wurden durch den Einsatz der Spiegel nicht nur metaphorisch, sondern ganz tatsächlich verändert.
Die Brücke wird zur größten Bühne der Stadt
Diese „auffällige Unsichtbarkeit“ des Entwurfs sollte die Aufmerksamkeit auf die Themen des Festivals lenken. Und tatsächlich: Während des Festivals war die Sperrung der Brücke DAS Thema in der Stadt, egal in welchem Café man in dieser Zeit gesessen hat, egal welche Zeitung man aufgeschlagen hat – überall in Hannover wurde diskutiert und gestritten, ob die Kunst diese Maßnahme nun rechtfertigt oder nicht. (Wir haben es sogar auf die Titelseite der Bildzeitung "geschafft"! Wann hat das ein architektonischer Eingriff in Hannover das letze mal erreicht?) Die szenografische und narrative Kraft des Theaters - im Zusammenspiel mit dieser architektonischen Intervention – hat so kurzfristig einen Ort erzeugt, der nicht nur Raum für künstlerische und aktivistische Auseinandersetzung bietet sondern besonders durch die Konfrontation (Man kann in Hannover den Bürgerinnen wohl nichts mehr in den Weg legen, als auf dieser Brücke) wirklich einen Dialog mit der lokalen Stadtgesellschaft erzeugt, der auf mehreren Ebenen im „geschlossenen“ Raum des Theaters in dieser Form und Intensität niemals möglich gewesen wäre. So haben wir nicht nur kurze Aufmerksamkeit, sondern ein länger anhaltendes Bewusstsein für marginalisierte Perspektiven geschaffen.
Ein Wahnsinnsprojekt für uns, weil wir da, dank der vertrauensvollen und wirklich partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit der Intendantin geschafft haben, eine Disruption zu erzeugen und einen ganz klar monofunktional programmierten Stadtraum anzueignen und umzudeuten.
Die Hochstraße und Rudolf Hillebrecht
“Das Wunder von Hannover” heißt es bis heute, wenn von Rudolf Hillebrecht gesprochen wird – dem Mann, der Hannover als Stadtbaurat nicht nur wiederaufgebaut, sondern direkt zur vorzeigbaren autogerechten Stadt umgeplant hat. Vor allem der Cityring, auf dem auch das Festival stand, hat Hillebrecht als Stadtplaner berühmt gemacht. Worüber seltener und vor allem viel weniger gerne gesprochen wird, ist Hillebrechts steile Karriere im dritten Reich, die Verwaltung von Zwangsarbeiter:innen und die Naziseilschaften, die ein nicht wegzuleugnender Bestandteil seines beruflichen Schaffens und eben auch seines Erfolges sind. Diesen Teil des Architekten und des „Wunders mit Nazihintergrund“, hat Ivana Rohr in einer Lecture-Performance herausgearbeitet und in den Vordergrund gerückt
Barrierefreiheit
Wir haben besonders gerne und intensiv mit Sophia Neises und Noa Winter zusammengearbeitet, die uns und das Festival zum Thema Barrierefreiheit beraten haben. So ist beispielsweise ein taktiles Wegeleitsystem entstanden und kurz vor Eröffnung haben wir mit einer alten Buchpresse und 3D gedruckter Matrizen Lagepläne erstellt, die mit Brailleschrift ertastbar sind.
Fotos: Julius C. Schreiner und Moritz Küster